Muss wirklich jeder ein Erasmus-Semester absolvieren?

Das Erasmus-Semester*: Fernlust, spannende fremde Länder, Kulturen und Menschen, unbeschreibliche Partys, bessere Universitäten, ein neues Selbst, Freiheit!

So, oder zumindest so ähnlich, werden Erasmus-Aufenthalte von Universitäten, Magazinen und Kommilitonen angepriesen. Hier im Magazin haben wir selbst schon oft über Erasmus und alle möglichen anderen Formen des Auslandsaufenthalts geschrieben. Wir haben aber nie wirklich die Frage gestellt, ob sich ein solcher Erasmus-Aufenthalt überhaupt wirklich für jeden und jede lohnt. Im Großen und Ganzen sind wir einfach der allgegenwärtigen Doktrin — Erasmus ist die beste Zeit deines Lebens und definitiv ein Muss für den Lebenslauf — gefolgt.

Aus der Formulierung der Frage, die diesen Artikel betitelt, wird schon klar, dass dieser Text dir nicht einfach nur sagen wird, dass dein Erasmus-Semester die beste Zeit deines Lebens sein wird. Ein Auslandssemester „absolvieren“ klingt mehr nach Arbeit und Stress, als nach Spaß, wilden Partys, Abenteuern und kulturellem Austausch in all seinen Facetten. Das heißt aber nicht, dass wir uns gegen Erasmus- und Auslandssemester aussprechen – ganz im Gegenteil. Es ist aber trotzdem wichtig, aus ganz verschiedenen Gründen, mit der Erzählung zu brechen, dass jeder und jede ein solches Erasmus-Semester absolvieren ‚müssen‘.

Alle gehen ins Ausland!

Manchmal kommt es einem so vor, als würden alle, also wirklich alle, ein Semester im Ausland verbringen.

Insbesondere in den ‚typischen‘ Semestern, zieht es plötzlich alle, auch aufgrund der bürokratischen Bedingungen, ins Ausland. Als ‚Daheimgebliebener‘ scheint es fast so, als hätte der gesamt Studiengang seinen Standort gewechselt. Dieses Gefühl ist aber trügerisch, denn laut einem aktuellen Bericht (2019) des DAAD und des DZHW geht ‚nur‘ etwa ein Drittel der Studierenden während des Studiums studienbezogen ins Ausland (2016). Nur rund ein Fünftel ist dabei aber länger als drei Monate unterwegs. Diese Zahl stieg seit den frühen 1990ern stetig, ist aber seit 2011 relativ stabil. Interessant ist dabei auch, dass es recht große Unterschiede zwischen den Hochschultypen (FH, PH, Universität) und den Fachbereichen gibt.

Ganz nüchtern betrachtet ist die Sache mit dem Erasmus-Semester also sicherlich eine sehr viel individuellere Sache, als man meinen mag. Nicht alle gehen studienbezogen ins Ausland und die Formate-, Ziele-, und Programme unterscheiden sich auch gewaltig.

Warum sind aber die Stimmen, derjenigen, die im Ausland waren (oder die ins Ausland gehen wollen) und eine gute Zeit hatte so viel lauter als die der anderen?

Die Geschichte vom Auslandsaufenthalt

Irgendwie scheinen sich alle einig: Das Auslandssemester ist die beste Zeit des Studiums, vielleicht sogar des Lebens; außerdem wird es ohne die vielbetonte Auslandserfahrung garantiert nahezu unmöglich sein, später einen Job zu finden (Personaler scheinen das anders zu sehen). Das mag zwar grundsätzlich in die richtige Richtung gehen, aber wir sollten diese Erzählung auch einmal hinterfragen.

Anstelle jetzt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu starten — das machen andere — soll nur auf einen Gedanken hingewiesen werden:

Auslandsaufenthalte sind gesellschaftlich und politisch gewünscht – aus gutem Grund. Die Idee ist, dass solche Aufenthalte die europäische/internationale Kooperation und die Demokratie stärken und die Teilnehmer und Teilnehmerinnen als offenere und gebildetere Menschen nach Hause kommen. Dem ist auch gar nichts entgegenzusetzen. Gedacht auf das Große und Ganze ist das eine wunderbare Mission, die man nur unterstützen kann.

Individuell kann die Geschichte aber ganz anders aussehen: Nicht jeder Erasmus-Aufenthalt, nicht jede Auslandserfahrung ist notwendigerweise eine Gute. Von diesen negativen Erfahrungen hört man aber selten – warum? Es ist anzunehmen, dass die Erasmus-Berichte, die man so finden kann, einem ziemlichen Bias unterliegen. Das hat, mindestens, zwei Gründe:

Wer einen ‚schlechten‘ oder unangenehmen Aufenthalt absolviert hat, scheint nahezu gezwungen dazu, die eigene Geschichte im Nachhinein neu zu erzählen. Nehmen wir an, ich habe ein Erasmus-Semester in Spanien absolviert. Ich habe relativ wenig von der Uni gesehen, meine Zeit mit anderen Erasmus-Studis verbracht, mein Geld verbrannt und meine Beziehungen in Deutschland vielleicht weniger ernst genommen, als zuerst gedacht. Wenn ich jetzt nach Hause komme, ist die einzige Möglichkeit, ‚etwas‘ aus dem Aufenthalt (mal abgesehen vom potentiellen Spaßfaktor) zu ziehen eine gute Geschichte, die betont, wie bereichernd und lehrreich mein Aufenthalt war. Ökonomisch gesprochen: das Investment, wie wir gleich sehen werden, ist relativ groß und daher muss auch der Return stimmen!

Zum anderen fühlt es sich für viele so an, als dürfe der Auslandsaufenthalt nicht ‚schlecht‘ laufen. Stell dir vor, du kommst nach drei Monaten nach Hause und musst deinem Freund und deinen Eltern sagen, dass du jetzt eigentlich das Gefühl hast, drei Monate lang Zeit und Geld verschwendet zu haben. Ganz davon absehen passt eine negative Geschichte auch nicht ins kollektive Narrativ eines großartigen Auslandsaufenthaltes, welches fundamental und ‘alternativlos’ zum „Heimkommen“ dazugehört. Wer keinen „wahnsinnig tollen und inspirierenden“ Aufenthalt hatte, kann sich nur schwer der Gruppe derer anschließen, die sich über Ihren Aufenthalt identifizieren.

Beide Mechanismen führen dazu, dass negative Erfahrungen entweder umgedeutet oder schlichtweg verschwiegen werden. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir mit einer Flut an positiven Berichten konfrontiert sind, die die Geschichte des unfehlbaren Auslandsaufenthaltes weiter vorantreiben.

Nach all dieser Schwarzmalerei ist es nun aber doch auch wichtig zu betonen, dass die Masse der Auslandsaufenthalte vermutlich wirklich bereichernd und toll ist! Es soll nur nicht der Eindruck entstehen, wie es das aktuell tut, dass diese Erfahrung von allen ausnahmslos geteilt wird. Dadurch entsteht nämlich nicht nur ein Zerrbild, sondern auch eine sehr unangenehme Situation für all diejenigen, die vielleicht wirklich nicht die beste Zeit ihres Lebens hatten.

Warum sollte man einen Erasmus-Aufenthalt machen und warum nicht?

Nach dieser langen Vorrede wollen wir uns jetzt ansehen, warum man ein Erasmus-Semester machen sollte. Gleichzeitig schauen wir uns aber auch an, welche Kosten dadurch entstehen. Die Annahme: Ein Auslandsaufenthalt funktioniert genauso wie alles andere im Leben – man bekommt etwas und man gibt etwas; es muss sich nur, ganz individuell gedacht, lohnen!

Fangen wir bei den Kosten an – dann haben wir den unangenehmen Teil hinter uns gebracht. Wer für eine längere Zeit ins Ausland geht, insbesondere auch mit Erasmus, muss im Grunde drei Risiken tragen: Ein Erasmus-Semester kostet Geld – du wirst, auch mit Stipendium, mehr Geld brauchen und ausgeben als in Deutschland. Ein Erasmus-Semester wird deine Beziehungen in Deutschland belasten; wie und warum ist eigentlich selbsterklärend. Ein Erasmus-Semester wird, aller Voraussicht nach, dein Studium verlangsamen. Ganz abgesehen von chaotischen Anrechnungsverfahren schaffen es die wenigsten, im Erasmus-Semester gleich oder gar härter zu arbeiten, als zu Hause. Ganz davon abgesehen sind viele der beliebtesten Erasmus-Universitäten schlichtweg nicht auf dem gleichen Standard wie viele deutsche Universitäten.

Gleichermaßen gibt es aber auch wirklich viele gute Gründe sich ins Erasmus-Semester zu werfen. Wenngleich es mit Sicherheit eine Unmenge mehr an Gründen gibt, fallen im Gespräch doch immer wieder sehr ähnliche:

Man möchte die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern, eine neue Sprache lernen und eine andere Universität und vor allem auch eine andere Kultur kennenlernen. Davon abgesehen möchte man vielleicht über den eigenen Schatten springen und sich selbst ein Stück weit neu erfinden. Nicht zu vergessen sind natürlich auch die wilden Partys, die Flirts, die neuen Freunde und eventuell auch ein wenig Urlaubsfeeling. Ganz zum Schluss könnte natürlich auch FOMO ein einfacher Grund sein – das Risiko eine potenziell tolle, unvergessliche und nicht aufzuholende Zeit zu verpassen ist einfach zu groß. Davon mal abgesehen fühlt es sich auch einfach doof an, ‘zu Hause’ zu sitzen, während ‘alle’ die Welt erkunden.

Das sind alles verständliche und gute Gründe. Leider ist es aber unmöglich, zu beurteilen, ob die darin versteckten Ziele auch immer erfüllt werden – dafür sind die Aufenthalte zu unterschiedlich, zu individuell. Wer an eine englische Elite-Universität geht und mit drei Engländern in einer WG lebt, wird vermutlich ein anderes Outcome haben, als ein ‘Partystudent’, der sich im Erasmus-Wohnheim in Spanien zeigen lässt, wie die ideale Sangria funktioniert und welcher Professor lieber einfach so einen Schein ausstellt anstelle sich mit der deutschen Erasmus-Bürokratie auseinanderzusetzen.

Beide Varianten sind, unter bestimmten Gesichtspunkten, vertretbar. Man darf und muss sich aber fragen, weswegen man einen Erasmus-Aufenthalt wirklich absolvieren möchte und mit welchen Erwartungen man das tut. Das ist insbesondere auch deswegen wichtig, da ein solches Abenteuer nicht umsonst ist, weder finanziell noch sozial. Wichtig ist aber auch, sich klarzumachen, dass diese Gründe erst einmal nur Wünsche und Ideen sind. Ein Semester in Spanien kann mit tollen Strandpartys zusammenhängen, muss es aber nicht. Die Hoffnung, dass die Universität in England wirklich besser ist, als die in Deutschland kann zutreffen, eine Garantie gibt es aber nicht.

Ein Fazit

Unter dem Strich ist die Sache mit dem Erasmus-Semester ganz einfach: Ein generelles Abraten wäre mindestens so idiotisch, wie der gebetsmühlenartige Aufruf endlich Erasmus zu machen. Dein Auslandsaufenthalt wird, vermutlich, so gut oder so schlecht, wie du ihn dir machst. Am Wichtigsten ist, dass du dir im Klaren darüber bist, warum du ins Ausland gehst, was du dir davon erhoffst und inwiefern du diese Ziele erreichen kannst. Du hast eigentlich gar keine Lust, wegzugehen? Dann lass es sein! Du hast die Lust, das Geld, und die Gelegenheit? Los geht’s, worauf wartest du!

Dein Auslandsaufenthalt und dein Studium sind dein Auslandsaufenthalt und dein Studium – völlig unabhängig davon, was deine Uni, ein Artikel, deine Freunde oder sonstwer sagen!

Falls du jetzt immer noch, oder jetzt erst recht, davon überzeugt bist, ins Ausland zu gehen, finde mit unserem Quiz heraus, wo die Reise hingehen soll.

Unter dem Strich ist die Sache mit dem Erasmus-Semester ganz einfach: Ein generelles Abraten wäre mindestens so idiotisch, wie der gebetsmühlenartige Aufruf endlich Erasmus zu machen. Dein Auslandsaufenthalt wird, vermutlich, so gut oder so schlecht, wie du ihn dir machst. Am Wichtigsten ist, dass du dir im Klaren darüber bist, warum du ins Ausland gehst, was du dir davon erhoffst und inwiefern du diese Ziele erreichen kannst. Du hast eigentlich gar keine Lust, wegzugehen? Dann lass es sein! Du hast die Lust, das Geld, und die Gelegenheit? Los geht’s, worauf wartest du!

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* Wir sprechen in diesem Artikel strikt über das Erasmus+ Programm für Studierende. Das ist nämlich wichtig: Erasmus gibt es nicht nur für Studis, sondern auch für Schüler, Dozenten, Azubis und viele andere.